Interview mit Marie-Christin Petrasch, M. Sc. APN/CHN, Pflegeexpertin an den DRK Kliniken Berlin Köpenick

Pflegeexpertin Marie-Christin Petrasch über Community Health Nursing und ihren Aufbauarbeit an den DRK Kliniken Berlin Köpenick
Marie-Christin Petrasch (Foto privat)

Frau Petrasch, Sie arbeiten als Community Health Nurse (CHN) – was genau verbirgt sich hinter diesem Berufsbild?

Community Health Nurses, kurz CHNs, sind spezialisierte Pflegefachpersonen mit einem Masterabschluss im Bereich Community Health Nursing/ Advanced Practice Nursing. Ihre Aufgabe ist es, eine zentrale Rolle in der Gesundheitsförderung und Prävention zu übernehmen. Dabei handelt es sich nicht um einen neuen Gesundheitsberuf, sondern um eine erweiterte Form der professionellen Pflegepraxis. Im Kern geht es um eine wohnortnahe, evidenzbasierte und kontinuierliche Versorgung, die Menschen nicht nur im Krankheitsfall unterstützt, sondern ihre Gesundheit ganzheitlich stärkt. Diese Arbeit findet direkt in den Lebenswelten der Menschen statt, also in den sozialen, kulturellen und regionalen Kontexten, in denen Gesundheit entsteht. Gesundheit verstehen wir dabei nicht nur als die Abwesenheit von Krankheit, sondern als ein komplexes Zusammenspiel von individuellen, familiären, gemeinschaftlichen und strukturellen Faktoren. Genau an diesen Schnittstellen setzen CHNs an. Sie verbinden individuelle Versorgung mit der Arbeit in sozialen Netzwerken und berücksichtigen dabei die Bedingungen vor Ort. Ziel ist es, Ressourcen zu stärken, gesundheitliche Risiken frühzeitig zu erkennen und die gesundheitliche Chancengerechtigkeit nachhaltig zu fördern.

Wie sah Ihr Weg in diesen Beruf aus – was haben Sie studiert und was hat Sie motiviert, sich in Richtung CHN zu spezialisieren?

Nach Abschluss meiner Ausbildung war ich zunächst auf einer gynäkologischen Station in einem Krankenhaus tätig. Parallel zu dieser praktischen Arbeit absolvierte ich ein Bachelorstudium in Gesundheitspsychologie. Dieses Studium war jedoch stark theoretisch ausgerichtet, wodurch mir in Teilen die Verbindung zur pflegerischen Praxis fehlte. Um diese Lücke zu schließen, qualifizierte ich mich zusätzlich als Wundexpertin und absolvierte die Weiterbildung zur Praxisanleitung. Die enge Verbindung zwischen Theorie und Praxis war mir dabei schon immer ein zentrales Anliegen, da nur durch deren wechselseitige Verzahnung eine qualitativ hochwertige Gesundheitsversorgung gelingen kann.

Im Anschluss an mein Bachelorstudium suchte ich gezielt nach neuen beruflichen Perspektiven innerhalb der Pflege und nahm eine Tätigkeit am Universitätsspital Zürich auf. Dort begegnete ich erstmals Advanced Practice Nurses (APN) in der direkten Versorgung - ein Schlüsselerlebnis, das meine weitere berufliche Ausrichtung maßgeblich prägte. Besonders beeindruckte mich, wie die APNs die pflegerische Versorgung evidenzbasiert und zugleich praxisnah gestalteten, innovative Lösungen für komplexe pflegerische Phänomene entwickelten und dadurch Versorgungslücken schlossen. Die Arbeit in der Schweiz während der COVID-19-Pandemie war jedoch mit besonderen Herausforderungen verbunden, insbesondere aufgrund der Grenzschließungen. Dies veranlasste mich schließlich zur Rückkehr nach Deutschland.

In Dresden absolvierte ich den Masterstudiengang Pflege mit dem Schwerpunkt Community Health Nursing/ Advanced Nursing Practice. Parallel dazu war ich in Berlin als zentrale Praxisanleiterin tätig. Besonders bereichernd empfand ich während des Masterstudiums die praxisorientierte Auseinandersetzung mit den Themen Gesundheitsförderung und Prävention. Darüber hinaus stellte der Erwerb erweiterter klinischer Kompetenzen für mich sowohl auf fachlicher als auch auf persönlicher Ebene eine ausgesprochen motivierende und prägende Erfahrung dar. Nach dem Masterabschluss war ich zunächst kurzzeitig als Referentin für einen Kostenträger auf Bundesebene tätig, bevor ich die Möglichkeit erhielt, als CHN in der Praxis zu arbeiten. Derzeit baue ich meinen eigenen Bereich auf und absolviere berufsbegleitend ein Doktoratsstudium im Bereich Nursing Practice and Leadership an der Paracelsus Medizinischen Privatuniversität Salzburg.

Welche Aufgaben übernehmen Sie konkret in Ihrem Arbeitsalltag an den DRK Kliniken Berlin Köpenick?

Es ist momentan gar nicht so einfach, meinen Arbeitsbereich in wenigen Sätzen zu beschreiben, einfach deshalb, weil ich ihn gerade vollständig neu aufbaue, quasi wie ein „Inhouse-Start-up“. Wir befinden uns derzeit in einer Pilotphase, in der ich eine Pflegesprechstunde etabliere. Der Schwerpunkt liegt klar auf Gesundheitsförderung und Prävention, insbesondere für ältere, multimorbide Patientinnen und Patienten. In diesen Sprechstunden sprechen wir über das individuelle Krankheitsverständnis, überprüfen gemeinsam das Medikationsmanagement und entwickeln Strategien zur Selbstfürsorge sowie zur Krankheitsbewältigung, die genau auf die jeweilige Lebenssituation zugeschnitten sind.

Darüber hinaus nimmt die Netzwerkarbeit einen großen Teil meines Alltags ein. Wir planen und realisieren gesundheitsbezogene Maßnahmen im Bezirk, oft gemeinsam mit Akteurinnen und Akteuren aus dem Gesundheitswesen, dem Sozialbereich und der Zivilgesellschaft. Ein Beispiel ist der Demenzaktionstag am 19. September 2025 hier in den DRK Kliniken Berlin Köpenick, bei dem wir Bürgerinnen und Bürger zum Thema Demenz informieren und auf bestehende Unterstützungsangebote im Bezirk aufmerksam machen. Auch andere Themen, wie etwa die Katastrophenvorsorge, habe ich bereits in Kooperation mit dem Katastrophenschutz erfolgreich umgesetzt.

Mein Tätigkeitsfeld ist insgesamt sehr breit aufgestellt. Kürzlich habe ich beispielsweise ein Community Health Assessment für das Allende-Viertel durchgeführt. Der nächste Schritt ist nun, gemeinsam mit den Akteurinnen und Akteuren vor Ort zu prüfen, welche niedrigschwelligen Maßnahmen wir umsetzen können, um Gesundheitsthemen gezielt und wirksam in diesem Quartier zu adressieren.

Mit welchen Berufsgruppen arbeiten Sie eng zusammen – und wie gestaltet sich die interprofessionelle Zusammenarbeit in der Praxis?

Die Zusammenarbeit mit anderen Berufsgruppen erlebe ich als ausgesprochen professionell und bereichernd. Da ich sektorenübergreifend arbeite, habe ich mit einer Vielzahl unterschiedlicher Fachrichtungen zu tun. In der Pflegesprechstunde kooperiere ich besonders eng mit Pflegefachpersonen, Ärztinnen und Ärzten, Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeitern sowie Psychologinnen und Psychologen. In unseren wöchentlichen Teamsitzungen sprechen wir offen über aktuelle Herausforderungen und entwickeln gemeinsam praxisnahe Lösungen. Außerdem arbeite ich eng mit unserer Beauftragten für das Programm „PfiFf - Pflege in Familien fördern“ zusammen, das wir in Kooperation mit der AOK Nordost anbieten.

Besonders spannend ist für mich, dass diese Kooperation weit über das Krankenhaus hinausgeht. Ich bin regelmäßig im Austausch mit Akteurinnen und Akteuren aus dem Bezirksamt, aus gemeinwesenorientierten Projekten sowie aus weiteren Gesundheits- und Sozialeinrichtungen. Diese interprofessionelle Zusammenarbeit auf Augenhöhe, über Berufs- und Sektorgrenzen hinweg, ist für mich ein zentraler Bestandteil dessen, was Community Health Nursing ausmacht.

Inwiefern unterscheidet sich Ihre Tätigkeit von klassischen Pflegeberufen?

Ein wesentlicher Unterschied zu klassischen Pflegeberufen liegt im erweiterten Aufgabenprofil, insbesondere in den Bereichen Prävention, Gesundheitsförderung, Beratung und Gemeinwesenarbeit. Als CHN richte ich meinen Blick nicht nur auf einzelne Patientinnen und Patienten, sondern auch auf ihr soziales Umfeld, ihre Familien und ganze Communities. So lassen sich gesundheitsrelevante Bedarfe im Quartier systematisch erfassen, analysieren und passgenaue Maßnahmen entwickeln. Im Gegensatz zu klassischen Pflegefachpersonen bin ich nicht ausschließlich im klinischen Setting tätig. Ein großer Teil meiner Arbeit findet direkt im Bezirk statt, zum Beispiel bei Netzwerktreffen oder öffentlichen Veranstaltungen. Es kann durchaus sein, dass ich an einem Dienstagabend an einem Runden Tisch im Quartier mit Akteurinnen und Akteuren aus dem Gemeinwesen sowie mit Bewohnenden zusammensitze, um zu überlegen, welche Themen wir gemeinsam umsetzen können. Auf diese Weise ist unter anderem ein Thementag zur Einsamkeit entstanden. Diese Tätigkeit unterscheidet sich deutlich von der klassischen Pflegearbeit. Die dafür erforderlichen methodischen und analytischen Kompetenzen, etwa für eine gemeinwesensorientierte Versorgungspraxis, werden in der regulären Pflegeausbildung nicht vermittelt. Sie sind Bestandteil vertiefender Studien auf Masterebene, in denen wir lernen, evidenzbasiert zu arbeiten, gesundheitswissenschaftliche Erkenntnisse in die Praxis zu übertragen und sektorenübergreifend zu handeln.

Was würden Sie sich politisch oder strukturell für die Weiterentwicklung des Berufsbildes Community Health Nurse wünschen?

Ich wünsche mir, dass mehr Pflegefachpersonen den Schritt zu einem Masterstudium im Bereich Advanced Practice Nursing wagen, idealerweise mit dem Schwerpunkt Community Health Nursing, aber auch in anderen APN-Spezialisierungen. Dafür braucht es jedoch nicht nur Mut, sondern auch bessere strukturelle Rahmenbedingungen. Ein wichtiger Schritt wäre die Einrichtung eines eigenständigen CHN- oder APN-Studiengangs in Berlin. Zwar gibt es in Deutschland bereits Hochschulen mit entsprechenden Angeboten, aber bisher nicht in Berlin. Ein wohnortnahes Studium würde lange Anfahrtswege und organisatorische Hürden vermeiden und den Beruf insgesamt attraktiver machen.

Ebenso dringend ist ein eigenständiges Berufs- und Leistungsrecht für APNs und CHNs. Aktuell fehlt die rechtliche Grundlage für eine eigenverantwortliche, erweiterte pflegerische Tätigkeit. Diese Unsicherheit hält viele davon ab, ein Masterstudium aufzunehmen. Oft ist unklar, wie die erworbenen Kompetenzen später eingesetzt und finanziert werden können. Das führt dazu, dass erweiterte Handlungskompetenzen, wie beispielsweise das Abhören der Lunge, im Alltag nicht genutzt werden dürfen. Wenn Patientinnen und Patienten ohnehin schon in meiner Sprechstunde sind, wäre es mit den entsprechenden Kompetenzen deutlich effizienter und sinnvoller, die Versorgung zu gestalten. Für die aktuellen und künftigen Herausforderungen unseres Gesundheitssystems brauchen wir innovative Lösungen. Community Health Nursing und Advanced Practice Nursing bieten hier enormes Potenzial, um Versorgungslücken zu schließen, die gesundheitliche Versorgung zukunftsfähig zu gestalten und den internationalen Anschluss zu sichern.

Was sollten junge Pflegekräfte wissen, die sich für ein erweitertes pflegerisches Berufsbild wie das der CHN interessieren?

Wer den Weg in ein erweitertes pflegerisches Berufsbild wie das der CHN einschlagen möchte, sollte sich die Begeisterung für den Pflegeberuf bewahren und sich immer wieder bewusst machen, warum man diesen Beruf ursprünglich gewählt hat. Die Rolle ist anspruchsvoll, denn wir bewegen uns derzeit in einem echten Pionierfeld. Dafür braucht es Willensstärke und Resilienz, um mit strukturellen Hürden und Unsicherheiten umgehen zu können. Ebenso wichtig ist ein echtes Interesse an Menschen, nicht nur als Einzelpersonen, sondern auch in ihrem sozialen Umfeld und eingebettet in ihre Gemeinschaft. Denn Gesundheit wird wesentlich durch das Lebensumfeld geprägt. Im Studium erhält man die Schlüsselkompetenzen, sozusagen einen gut gefüllten Werkzeugkoffer, für die Tätigkeit als CHN. Die konkrete Ausgestaltung der Rolle, das individuelle Tätigkeitsprofil und die Integration in bestehende Strukturen muss man in der aktuellen Aufbauphase jedoch häufig selbst mitgestalten. Das ist herausfordernd, eröffnet aber auch die Chance, die Pflegeprofession aktiv weiterzuentwickeln und es bringt, trotz aller Anstrengung, viel Freude an der Arbeit. Das Studium zur CHN kann derzeit an mehreren Hochschulen in Deutschland absolviert werden, zum Beispiel in Dresden, Regensburg, München oder Hamburg. Meist wird es berufsbegleitend angeboten, sodass sich Studium und Beruf gut miteinander verbinden lassen.

 

Das Interview wurde geführt mit:

Marie-Christin Petrasch, M.Sc.APN/CHN
APN/ Pflegeexpertin für den Bereich Community Health Nursing (CHN)

DRK Kliniken Berlin Köpenick, Salvador-Allende-Straße 2 – 8, 12559 Berlin

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